Laudatio für Prof. Dr. Rocco Buttiglione

Kardinal Péter Erdő

23. Juni 2023, Heiligenkreuz

Hochwürdigster Herr Erzabt!

Sehr verehrter Preisträger Herr Professor Rocco Buttiglione!

Verehrte Festversammlung!

Es ist eine große Freude und eine Ehre für mich, heute Abend die Laudatio auf den neuen Träger des Thomas – Morus – Preises, Professor Buttiglione, zu halten.

Kardinal Péter Erdö

Professor Rocco Buttiglione ist 1948 geboren und hat Rechtswissenschaft in Turin und Rom studiert. Er war 1972 – 1986 wissenschaftlicher Assistent in Rom an der Universität La Sapienza und parallel damit zwischen 1973 – 1986, Lehrbeauftragter an der Universität Urbino. 1986 wurde er ordentlicher Professor an der Universität D‘Annunzio in Chieti –Teramo bis 1994. Später war er Professor an der Heiligen Pius der V. Universität in Rom. Er war Professor für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Politik, der Ökonomie und der Gesellschaftswissenschaften an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und zwischen 1986 – 1994 auch Prorektor derselben. Als Philosoph hat Buttiglione, in Nachfolge seines Lehrers Augosto del Noce, wichtige Bücher veröffentlicht.

Rocco Buttiglione hat im Laufe der Zeit Lehraufträge weltweit übernommen und führt diese Tätigkeit bis heute fort, nicht zuletzt aufgrund seiner bewundernswerten sprachlichen Begabung. Über viele Jahrzehnte hinweg hat er in Polen sowie in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere Mexiko und Chile, gelehrt und sich dabei ein internationales Netzwerk aufgebaut. Dadurch besitzt er eine herausragende Kenntnis der wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Debatten, sowie der kulturellen Probleme unterschiedlicher Kontinente und Kulturen, die auf eigenen Erfahrungen basiert. Besonders bemerkenswert ist sein bedeutendes Buch „Caminos para una teología de pueblo y de la cultura“ (2022), das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde und ein vorbildliches Beispiel für einen gelungenen interkulturellen Dialog darstellt.

Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten sowie seine Persönlichkeit als katholischer Denker waren auch in der Kirche geschätzt. Er war 1984 – 1991 Mitglied des Päpstlichen Rates Iustitia et Pax und seit 1994 ist er Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften. Er hat freundschaftliche Beziehungen zu drei Päpsten, Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus gehabt. Über den heiligen Papst, Johannes Paul II. hat er eine maßgebliche intellektuelle Biographie geschrieben: Karol Wojtyła: The Thought of the Man Who Became Pope John Paul II (1997). In diesem Werk schildert er den philosophischen Weg Wojtylas zwischen Thomismus und Phaenomenologie.

Seine wissenschaftliche Tätigkeit wurde auch durch Auszeichnungen anerkannt.

Er ist Doktor Honoris Causa der Katholischen Universität Lublin und wurde als erster Ausländer mit der höchsten kulturellen Auszeichnung der Republik Polen, der Gloria Artis Medaille verehrt.

Buttiglione aber ist längst nicht nur ein Wissenschaftler. Er beschäftigt sich mit der Politik, und zwar mit verantwortlicher Hingabe. Er war ab 1994 viele Jahre Mitglied des italienischen Senats und dessen Vizepräsident, sowie Mitglied des Europäischen Parlaments. Er war Minister in Italien, in der Regierung Berlusconi für Europaangelegenheiten und für Kulturerbe und kulturelle Aktivitäten. Im August 2004 nominierte ihn Italien als Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, in welcher er für Justiz, Freiheit und Sicherheit zuständig sein sollte. In seiner Anhörung vor dem Europäischen Parlament stellte er klar, dass er als Katholik und Rechtsphilosoph das „Ius Naturale“ für richtig erkenne, aber als überzeugter Europäer die persönlichen Rechte von Andersdenkenden respektieren würde. Seine Äußerungen führten dazu, dass er als designiertes Mitglied der Europäischen Kommission abgelehnt wurde. Er blieb aber seiner christlichen Überzeugung treu und verzichtete freiwillig auf das Amt des Vizepräsidenten der Kommission.

Und hier sind wir beim Kern seiner Persönlichkeit angekommen. Gute Wissenschaftler und erfolgreiche Politiker gab es, und gibt es nicht wenige in der Welt. Aber bekennende Christen, welche versuchen, diesen Verantwortungen aufgrund ihrer christlichen Identität zu entsprechen, sind in der heutigen Welt eine echte Rarität. Ein Zeichen gegen die politisch korrekt gewordene Gesellschaft!

Gestatten Sie mir eine persönliche Erinnerung. Mein Vater war Jurist im kommunistischen Ungarn. Er ist vor der Wende von 1989 – 1990 gestorben. Er konnte seinen Beruf nie ausüben. Er beschäftigte sich nie mit der Politik, er war aber zu religiös. Meine Mutter war Lehrerin, und sie durfte nicht unterrichten. Sie war natürlich zu religiös. Als ich mit 18 Jahren unter die Priesterkandidaten aufgenommen wurde, lebte mein eigener Diözesanbischof, der Diener Gottes Kardinal Josef Mindszenty, als Flüchtling in der amerikanischen Botschaft. Wir Seminaristen mussten in einer Kriminellendivision Militärdienst leisten. Als wir zur Stellung hereingezogen wurden, lautete eine der ersten Fragen: Wievielmal wurden Sie bestraft, und wegen welches Verbrechens? Dass man vielleicht nicht vorbestraft war, kam überhaupt nicht in Frage. Und alle diese Situationen haben wir als einigermaßen natürlich empfunden. Wir waren ja Christen, sogar Priesterkandidaten. Die Beschreibung eines ähnlichen psychischen Zustandes habe ich später im „Roman eines Schicksallosen“ des Nobelpreisträgers Imre Kertész entdeckt. Nach verrückten Situationen, welche er im Laufe des Holocaust erlebt hat, wiederholt er hartnäckig, wie eine Litanei, das Wort „natürlich“. Es war allerdings nicht mit der natürlichen Ordnung der Welt in Harmonie, es schien nur im Zusammenhang einer verrückten Gesellschaft klar und folgerichtig, so zu sagen: „natürlich“.

Wenn Papst Franziskus sagt, dass wir in einer Epoche der großen Wende leben, trifft diese Feststellung völlig zu. Ähnliche Änderungen fanden in der Geschichte der Kirche auch früher statt.

In den ersten christlichen Jahrhunderten haben die christlichen Texte weniger darüber gesprochen, wie die weltlichen Machthaber politisch vorgehen sollen. Eine kohärente, umgreifende christliche Soziallehre sucht man in jener Zeit vergebens. Man findet aber Verbote, wenn es darum geht, wer getauft werden kann. In der Traditio Apostolica am Anfang des III. Jahrhunderts lesen wir z.B., dass einer, der Gewalt über Leben und Tod hat, oder der höchste Magistrat einer Stadt ist, entweder damit aufhören soll oder nicht getauft werden darf (Traditio Apostolica XVI, 9). Dies versteht sich natürlich im Zusammenhang des heidnischen Römischen Reichs. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass das Römische Reich entweder heidnisch oder christlich (konstantinisch) war. Trotz kürzeren Perioden der relativen Toleranz und lokaler Möglichkeiten des Überlebens war eine echte religiöse Neutralität des Staates in den alten Zeiten kaum denkbar. Man fühlte ja das Bedürfnis, eine umgreifende Weltanschauung als Grundlage des staatlichen Lebens zu haben.

In den jüngsten Zeiten scheint man weitgehend die Illusion zu haben, dass das Leben der Gesellschaft keine große Ideologie oder Überzeugung braucht; und auch das Recht scheint nicht so sehr die Funktion zu haben, die Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten, sondern eher, die entgegenstehenden Interessen und Bestrebungen – unabhängig von ihrem Inhalt – in ein Gleichgewicht zu bringen.

Solche Auffassungen über Staat und Gesellschaft setzten nicht unbedingt ein Projekt, ein Bild über die Zukunft oder über die ganze Welt voraus. Wünsche und Meinungen ändern sich oft, wie das Wetter. Diese Änderungen brauchen nicht logische Begründungen, sondern sind oft Folgen von verschiedenen audiovisuellen und anderen manipulativen Effekten. Man reagiert oft, ohne zu denken. So kann die Frage gestellt werden: wo bliebt die Wahrheit und die menschliche Freiheit in diesem Prozess?

Rocco Buttiglione schreibt darüber: „um ein guter Berater des souveränen Volks zu sein, muss ein Staatsmann sich nicht fürchten, gegen den Strom zu

Festredner Kardinal Péter Erdö

schwimmen. Um ein Staatsmann zu werden, genügt es nicht, die Meinungsumfragen zu lesen und den Leuten das zu sagen, was sie gerne hören wollen. Meinungsumfragen spiegeln nicht den echten Willen des Volkes wieder, sondern nur die oberflächlichen Neigungen einer Masse von weitgehend uniformierten Menschen. Nur wenn das Volk mit der Wahrheit konfrontiert wird und ausführlich informiert ist, kann es sich entschieden und den eigenen Willen bestimmen. Ansonsten kann man vielleicht Wahlen gewinnen, ist aber nicht imstande, anschließend zu regieren.“

Man sieht also, welch große Aufgabe es ist, mit christlicher Überzeugungen eine leitende Position in der Politik anzunehmen. In den letzten Jahren ist aber nicht nur die gesellschaftliche Seite des Problems kritisch geworden, sondern es stellt sich wieder einmal auch die Frage: Was bedeutet es, ein Christ zu sein? Ist es eine bloße wohlwollende menschliche Einstellung, eine Bestrebung, die Welt um uns herum zu beobachten – zu suchen, was logisch, was allgemein annehmbar, vielleicht sogar was bequem oder tröstlich ist? Oder sind wir als Christen Jünger Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, dessen Lehre konkrete Wahrheiten enthält, und aus den Büchern des Neuen Testaments, sowie aus anderen Quellen im Lichte der Tradition erkennbar ist, und auch für uns Befreiung und Heil bringen kann? Wir haben Vertrauen in dem menschlichen Verstand. Wir denken auch, dass das sogenannte Naturrecht auch unter den sich wandelnden Umständen der Menschheit erkennbar ist. Wir sind trotzdem nicht nur Naturphilosophen, sondern Jünger Christi.

Der gläubige Christ ist eine souveräne Persönlichkeit. Die Annahme des christlichen Glaubens ist eine menschliche Handlung, ein Actus Humanus. Sie ist gleichzeitig ein Geschenk der göttlichen Gnade.

Dies wurde im konsequenten sittlichen Handeln und im Martyrium des heiligen Thomas Morus sichtbar. Die Nachfolge dieses großen Beispiels ist auch heute möglich. In diesem Sinne bedanken wir uns bei Professor Rocco Buttiglione für sein Bekenntnis und seine Konsistenz und gratulieren ihm von ganzem Herzen zum Thomas–Morus–Preis.